Das Projekt konsolen.net wurde im Sommer 2007 eingestellt. Bei diesem Internetauftritt handelt es sich nur noch um ein Archiv der Inhalte von 1996 bis 2007.
geschrieben von Sascha Gläsel
Hersteller: AM2 / Sega
Genre: Adventure
System: Dreamcast, PAL-Version
Besonderheiten: Komplett englisch; VGA kompatibel; benötigt Memory Card (80 Blöcke)
USK (ESRB): ab 12 Jahren
Spieler: 1
Testmuster von: eigene Anschaffung
Wir schreiben das Jahr 1986. Nach einem kleinen Abstecher findet Ryo Hazuki im heimatlichen Dojo seinen Vater Iwao im Clinch mit einem geheimnissvollen Fremden und seinen beiden Bodyguards. Offenbar sind die ungebetenen Besucher hinter einem geheimnisvollen Spiegel her, den Ryos Dad versteckt hält. Mit dem Spiegel allein gibt sich der geheimnissvolle Fremde mit dem Drachenhemd und der Narbe im Gesicht aber nicht zufrieden. Mit einer machtvollen Kampftechnik trifft er den Sensei so hart, dass er in den Armen seines Sohnes verstirbt und ihm mit seinen letzten Atemzügen den Namen des Fremden enthüllt: Lan Di. Fortan kennt Ryo nur noch ein Ziel. Rache an dem Mörder seines Vaters. Das ist allerdings nicht so einfach. Nur das seltsame Outfit Lan Di's mit dem Drachenmotiv und das schwarze Auto, mit dem er zum Tatort kam, sind die mageren Anhaltspunkte, mit denen das Abenteuer beginnt.
Um das Geheimnis zu lüften macht ihr euch als Ryo an die Arbeit. Die besteht zunächst darin, das heimische Anwesen auf Hinweise und nützliche Gegenstände zu untersuchen und mögliche Zeugen in der näheren Umgebung zu befragen. Dabei lernt ihr eure Mitbewohner, eine alte Haushälterin und einen jungen Schüler eures verstorbenen Vaters näher kennen. Während letzterer seine Hilfe bei der Suche des Mörders anbietet greift erstere euch mit ein wenig Geld hilfreich unter die Arme. Jeden Tag hinterlegt sie auf einer Kommode an der Haustüre als Taschengeld 500 Yen. Verlaßt ihr die heimischen vier Wände und schaut euch in einem der vier Stadtviertel näher um, begegnen euch eine Menge Orte an denen ihr euer Mücken loswerden könnt.
Große Bewegungsfreiheit
Ryos Wirkungskreis besteht aus vier überschaubaren Vierteln der japanischen Stadt Yokosuka, von denen zu Beginn drei erforscht werden dürfen. Während Yamanose und Sakuragaoka fast ausschließlich als Wohngebiet genutzt werden, sind in Dobuita überwiegend Geschäfte aller Art anzutreffen. Neben Läden für den täglichen Bedarf findet ihr hier zum Beispiel auch eine Spielhalle, eine Wahrsagerin und diverse Bars und Restaurants. Wie im richtigen Leben sind die Geschäfte nur zu bestimmten Zeiten geöffnet. Während Lebensmittel- oder Bekleidungsläden schon vormittags zum Einkaufsbummel einladen, öffnen Bars erst zu später Nachmittagsstunde ihre Pforten. Das vierte Stadtviertel, welches ihr allerdings erst im weiteren Spielverlauf aufsuchen werdet, ist der Hafen von Yokosuka. Doch zurück zu eurem virtuellen Alter Ego.
Die meiste Zeit in "Shenmue" werdet ihr als Amateurdetektiv verbringen. Ihr sucht zu Beginn Informationen zu dem schwarzen Auto, mit dem die Verbrecher zum heimischen Dojo gelangt sind. Dazu haut ihr die Bewohner der Nachbarschaft nach Informationen an. Diese werden automatisch nach der schwarzen Limousine befragt, wenn ihr sie ansprecht. Nach ein wenig Herumfragerei erfahrt ihr, wer genauere Angaben zu dem Auto machen kann. Fortan fragt Ryo seine Gesprächspartner nicht mehr nach dem ominösen Auto sondern nach dem Aufenthaltsort der Person, die den Wagen gesehen hat. Eine direkte Möglichkeit auf die Fragen Einfluß zu nehmen, zum Beispiel über eine Multiple Choice Auswahl aus mehreren Alternativen,.gibt es nicht. Habt ihr diesen Zeugen gefunden, liefert dieser euch einen weiteren Hinweis, dem ihr dann nachgehen müßt, die dann wiederum zu neuen Informationen führt, und so weiter. Damit ihr nicht den Überblick verliert, hält Ryo Wichtiges in einem Notizbuch fest. Sind zu Anfang nur wenige Seiten beschrieben, füllt sich das kleine Büchlein schnell mit Infos. Damit wißt ihr meist auch nach ein paar Tagen ohne "Shenmue" noch, was ihr als nächstes angehen solltet.
Actioneinlagen inklusive
Aufgelockert wird die Fragerei durch Quick-Time-Events (QTE) und Beat'em up Sequenzen. Bei den QTE ist schnelle Reaktion gefragt. In einem interaktivem Film (in Spielegrafik) greift ihr durch rechtzeitiges Drücken eines vorgegebenen Buttons oder Steuerkreuzrichtung ein. Schafft ihr das rechtzeitig, wendet ihr Schaden von Ryo ab und die Sequenz geht weiter. Im schlimmsten Fall kann Ryo einem Hindernis oder einem Schlag nicht ausweichen und die Sequenz ist zu Ende. Keine Angst, ihr dürft sie solange wiederholen, bis ihr sie erfolgreich hinter euch gebracht habt. Da diese Abschnitte in der Regel recht kurz sind, habt ihr sie schnell gemeistert.
Im anderen Actionpart mutiert "Shenmue" zu einem Beat'em up. Einige dunkle Gesellen wollen euch ans Leder und lassen nur von euch ab, wenn ihr ihnen eine tüchtige Tracht Prügel verabreicht. Hierzu steht eurem Alter Ego eine Vielzahl an Schlag-, Tritt- und Wurftechniken zur Verfügung. Die Steuerung erinnert dabei an "Virtua Fighter". Durch Kombinationen von Steuerkreuz und Buttons führt ihr deftige Kombos aus. Ein Standardreportoire stockt ihr durch neue mächtigere Moves auf. Diese erlernt ihr von euch freundlich gesinnten Zeitgenossen oder ersteht sie für viel Geld in Dobuita. Damit ihr härter zuschlagt müßt ihr fleißig trainieren. Nutzt hierzu den Dojo des Vaters oder einen der beiden kleinen Parks. Außerdem trainiert ihr vor dem zu Bett gehen noch etwas. Wie gut ihr die jeweiligen Schläge beherrscht, erfahrt ihr in einer Übersicht. Die Krönung erwartet euch am Ende von GD 3. Hier müßt ihr mit einem Freund nacheinander 70 Gegner ins Reich der Träume schicken (habt ihr "Shenmue" gelöst, könnt ihr diesen 70 Gegner Fight in den Optionen auf der Jagd nach einer Bestzeit noch einmal angehen).
Ablenkung vom harten Adventurealltag
Auch abseits der eigentlichen Story erwartet euch einiges. So könnt ihr zum Beispiel euer Glück in einer Spielhalle voller einarmiger Banditen auf die Probe stellen. Oder ihr gönnt euch einen Besuch in einer anderen Spielhalle, in der ihr nicht nur ein elektronisches Dartspiel vorfindet sondern auch die beiden Automatenklassiker "Hang On" und "Space Harrier", die ihr selbstredend auch spielen dürft. In den Lebensmittelläden ersteht ihr Nahrung für eine kleine Katze, deren Mutter von dem schwarzen Auto überfahren wurde und die an einem Schrein ein neues Zuhause gefunden hat. Dort will sie von euch und einem kleinen Mädchen gesund gepflegt werden. Daneben findet ihr in den Lebensmittelläden in Dobuita und am Hafen Kassetten mit neuen Songs für euren Kassettenrekorder sowie ein wenig Naschwerk. Kauft ihr einen dieser Artikel dürft ihr ein Los ziehen und gewinnt mit ein wenig Glück einen großen Kassettenrekorder oder ein Spiel für Segas alte Saturnkonsole, welches (entgegen der historischen Wirklichkeit) im Wohnzimmer in Hazukis Haus darauf wartet mit der Heimadaption von "Hang On" oder "Space Harrier" gefüttert zu werden.
Auf den ersten beiden GD's bewegt ihr euch relativ frei durch die japanische Stadt. Erst zur Mitte der GD 3 ist es mit der absoluten Freiheit vorbei. Schließlich wartet dann der harte Arbeitsalltag auf euch. Wenn ihr einen Arbeitsvertrag als Gabelstaplerfahrer in der Tasche um 7:30 Uhr aufsteht, werdet ihr sofort zum Hafen "gebeamt". Zwar dürft ihr in der zweistündigen Mittagspause den Hafen unsicher machen und auch nach Feierabend auf der Suche nach wichtigen Informationen herumdackeln. Aber sonst geht es ab jetzt es sehr linear bis zum Ende des Spieles weiter. Als weiteren Höhepunkt entschädigt euch eine kleine mitternächtliche Spritztour mit einem Motorrad.
Ein geregelter Tagesablauf
Zeit ist ein wichtiger Faktor in "Shenmue". Ihr beginnt den Tag um 8:30 Uhr (in Lohn und Brot um 7:30 Uhr). Dann lümmelt ihr euch nach Lust und Laune in der Stadt herum bis ihr um 23:30 Uhr (oder 11:30 pm) wieder in den Federn sein müßt. Seit ihr um 23:30 Uhr noch außer Haus, werdet ihr automatisch an euer Bett teleportiert. Natürlich gehen auch die anderen Bewohner der Stadt ihrem Tagwerk nach. Kinder spielen in den Straßen, Erwachsene gehen zu ihrer Arbeitsstelle. Abends, wenn die normalen Geschäfte geschlossen sind und die Lichter angehen, kommt Leben in den Teil von Dobuita, in dem sich die ganzen Bars befinden (einschließlich herumtorkelnder Betrunkene). Auf eurer Armbanduhr seht ihr, wie spät es gerade ist. Ein unentbehrliches Hilfsmittel vor allem dann, wenn ihr zu einer bestimmten Uhrzeit zu einer wichtigen Verabredung müßt. Die Zeit vergeht in Yokosuka dabei schneller als in der Realität. Dies ist auch bitter nötig, da es ab und an etwas Leerlauf gibt, wenn ihr ein paar Stunden oder einen ganzen Tag auf ein bestimmtes "Rendevousz" warten müßt.
Die Steuerung von Ryo gestaltet sich etwas hakelig. Via digitales Steuerkreuz lotst ihr euer virtuelles alter Ego durch die engen Gassen der Stadt. Mit dem analogen Stick laßt ihr den Blick über die nähere Umgebung schweifen. Mit "L" sprintet euer junger Freund. Um Sachen aller Art genauer unter die Lupe zu nehmen, zoomt ihr mit "R" heran. Wichtige Dinge werden dabei automatisch in der Mitte des Bildschirms fokussiert. Leider wird es dadurch manchmal etwas schwer einen Gegenstand näher zu betrachten, wenn euer Blick andauernd an einem anderen hängenbleibt. Im Inventar werden alle gefundenen oder gekauften Gegenstände sicher verwahrt.
Bombastgrafik
"Shenmue" ist grafisch eines der beeindruckendsten Dreamcast Spiele. Vor allem die Detailversessenheit der Programmierer verdient ein uneingeschränktes Lob. Das gilt sowohl für Gestaltung der vier Stadteile von Yokosuka als auch für die liebevoll herausgearbeiteten Charaktere, die euch bei eurem Abenteuer über den Weg laufen werden. Tadellos animierte Gestalten, die zudem noch eine ausgeprägte Gesichtsmimik samt wehenden Haaren bei den vielen Gesprächen zur Schau tragen. Ihr findet die offenbar obligatorischen Tratschtanten, die neuesten Klatsch verbreiten, vom Alter gebeugte Senioren, aggressive Seeleute und Schläger, ein paar Yakuzas, spielende Kinder, Ladenbesitzer, die, wenn sie keine Informationen auf Lager haben, euch ihre Sachen andrehen wollen, und einige echt skurrile Gestalten - viele Freund, manche Feind. Auch an unterschiedliche Wetterverhältnisse wurde gedacht. Regen ist im winterlichen Japan nicht selten. An Weihnachten beginnt es nicht nur zu schneien (etwas vom Schnee bleibt auch auf den Straßen liegen), auch die Geschäfte sind weihnachtlich geschmückt. Auf der Hauptstraße in Dobuita wandelt ein Weihnachtsmann umher und preist Waren an. Selbstredend wird es Abends dunkel und in einer kleinen Zwischensequenz seht ihr, wie die Straßenlichter angehen (bekommt ihr aber nur zu Gesicht, wenn ihr euch außerhalb eines Gebäudes aufhaltet).
Einen kleinen Haken hat diese Grafikpracht aber. Bewegen sich die Personen etwas weiter von euch weg, werden sie dezent ausgeblendet, damit es nicht zur ruckeln anfängt. Das führt manchmal zu dem bizarren Effekt, dass, wenn ihr etwas schneller durch die Gegend rennt, aus dem Nichts plötzlich irgendwelche Leute auftauchen. Trotz dieser Ausblenderei kommt es aber dann doch zu gelegentlichen Slow Downs. Besonders fällt dies ins Auge, wenn sich viele Personen durchs Bild bewegen oder ihr im verschneiten Hafen mit eurem Gabelstapler über einen größeren Platz fahrt.
Massig Musikstücke
Klasse der Sound und die Musik. Die Musikstücke, die ihr für euren Kassettenrekorder ersteht, sind zwar wenig aufwendig komponiert, aber reichlich an der Zahl. Fast jeder Laden in Dobuita hat seine eigenen Musikberieselung. Zu Weihnachten erschallt ein Chrismas Song aus den Lautsprechern. Ohrwurmqualität haben der Titelsong und das Liebeslied, welches euch kurz vor Ende der GD 3 zu Gehör gebracht wird, nachdem ihr in ritterlicher Manier eurer Herzensdame aus einer bedrohlichen Situation geholfen habt. Soundeffekte gibt es én Masse. Realistisch die Geräusche, die Ryo beim Laufen über diversen Untergrund macht. Holz, Asphalt oder Schneematsch, alles hört sich echt an. Die Auswahl der Sprecher ist Sega ebenfalls gut gelungen. Abgesehen vom etwas farblosen Ryo passen die Stimmen überwiegend gut zu den einzelnen Akteuren. Einzige krasse Fehlbesetzung: Die Kinderstimmen. Die kommen extrem piepsig aus den Lautsprechern und sind deshalb ein Graus. Leider ist "Shenmue" komplett in englischer Sprache gehalten (englische Untertitel sind auf Wunsch zuschaltbar). Da aber so gut wie keine Umgangssprache vorkommt und alle sehr deutlich artikulieren, kommt ihr gut mit normalem Schulenglisch zurecht.
Zum Abspeichern benötigt ihr 80 freie Blöcke auf eurer VMU. Darin finden drei Spielstände Platz. Eine Möglichkeit zur regulären Spielstandsicherung bietet sich euch bevor Ryo zu Bett gehen muss. Daneben dürft ihr einen Spielstand mitten im alltäglichen Treiben anlegen, der allerdings einmal geladen automatisch gelöscht wird. In den zwei Dreamcast GD-Hüllen findet ihr insgesamt vier Silberlinge vor. Die ersten drei enthalten das eigentliche Spiel. Die vierte ist eine Bonuszugabe, mit der ihr offline allerlei freigespielte Musikstücke, Spiele oder Zwischensequenzen noch einmal in aller Ruhe genießt. Ebenfalls enthalten: Eine spezielle Version von Segas Passport, mit dem ihr online zum Beispiel eure in den Mini Games erzielten Highscores auf einer Bestenlisten verewigt oder weitergehende Informationen zu den Orten und Personen des Spieles einholt.
Mein persönliches Fazit fällt zwiespältig aus. Da ist auf der Habenseite die Bombastgrafik gepaart mit tollem Sound und Musik, eine nicht sehr originelle aber doch packende Hintergrundgeschichte, das bis auf wenige Ausnahmen tolle Charakterdesign sowie die fast uneingeschränkte Bewegungsfreiheit mit den vielen Kleinigkeiten abseits der eigentlichen Story, die "Shenmue" so interessant machen. Negativ fallen vor allem die viel zu linearen Unterhaltungen auf, die einem doch etwas den Spaß am Adventurepart vergällen. Außerdem gibt es einige Längen und ein etwas unbefriedigendes Ende, da aufgrund der Tatsache, das "Shenmue" als Trilogie angelegt ist, noch eine Menge Fragen offen bleiben. Trotz dieser Mängel überwiegen meiner Meinung nach aber die positiven Aspekte, so dass ich euch "Shenmue" nur wärmstens ans Herz legen kann (sag).