Das Projekt konsolen.net wurde im Sommer 2007 eingestellt. Bei diesem Internetauftritt handelt es sich nur noch um ein Archiv der Inhalte von 1996 bis 2007.
geschrieben von Sascha Gläsel
Hersteller: Squaresoft
Genre: Rollenspiel
System: PlayStation, PAL-Version
Besonderheiten: Deutsche Texte, benötigt Memory Card (3 Blöcke), unterstützt analoge Controller und Rumble Funktion
USK (ESRB): ab 12 Jahren
Spieler: 1
Testmuster von: Eigene Anschaffung
Lang, lang hat's gedauert. Aber endlich haben die Spieleschmieden bemerkt, dass auch die Europäer gehaltvolle Rollenspielkost in ihr Videospieleherz geschlossen haben. Besonders die europäische Filiale der japanischen Edelrollenspielschmiede Square bringt in schöner Regelmäßigkeit einen Teil seiner Top-Hits aus Übersee auch nach Europa. Neuester Angriff auf den Geldbeutel der PlayStationfans: Das von der Kritik in den USA und Japan gleichermaßen gefeierte "Vagrant Story".
Nachdem ihr euch an dem wunderprächtigen aber leider etwas kurzen Renderfilmchen zu Beginn satt gesehen habt, glaubt ihr euch zunächst einmal im falschen Film. "Das sieht ja gar nicht aus, wie ein klassisches Rollenspiel, sondern eher wie ein 3D Action-Adventure" könnte eure erste Reaktion auf Vagrant Story sein. Schließlich bewegt sich euer Held Ashley Lionet durch dreidimensionale Dungeons, die es Raum für Raum in einer frei drehbaren Schräg-von-Oben 3D Perspektive zu erkunden gilt. Ihr müßt fleißig Kisten verschieben, zerstören oder aufeinander stapeln um die nächste Räumlichkeit zu erreichen. Ab und an stehen auch mal ein paar beherzte Sprünge an. Verborgenen Fallen werden, wenn möglich, elegant umgangen, die ein oder andere Schatzkiste wird im Vorbeigehen geplündert. Sofort nimmt euch die düstere Atmosphäre gefangen, optisch betont durch die überwiegend in diversen Brauntönen gehaltene Grafik und akustisch untermalt durch die das unheimliche Ambiente des Geschehens unaufdringlich unterstützende Musikkulisse. Allerdings bekommt ihr euch einen negativen Vorgeschmack auf die miserable PAL Anpassung von "Vagrant Story". Selten haben so dicke PAL Balken ein PlayStationspiel verunziert. Auch die deutsche Übersetzung der Texte ist kein Ruhmesblatt für Square Europe.
Action-Adventure oder Rollenspiel?
Stürzt sich zum ersten Male einer der vielen Gegner auf euch kommt der Rollenspieleinfluß voll zum tragen. Das ausgeklügelte rollenspielgerechte Kampfsystem erfordert einige Einarbeitung von euch um länger in "Vagrant Story" überleben zu können. Zunächst wechselt ihr vom unbewaffneten Relax- in den Kampfmodus um euch eurer Haut zu erwehren. Ein kugeförmiges Gitternetz poppt auf. Befindet sich ein Gegner innerhalb des Netzes steht einem unfreundschaftlichem Klaps mit der bevorzugten Waffe nichts mehr im Wege. Ihr habt die Qual der Wahl, wo ihr den Schlag anbringen wollt. Ob auf den Rumpf, die Extremitäten oder auf den Kopf hängt ganz von euch ab. Habt bei eurer Auswahl ein Auge auf die angezeigte Trefferwahrscheinlichkeit und den möglichen Schaden und entscheidet euch für das Ziel mit dem höchsten Schaden, das ihr mit größter Wahrscheinlichkeit erwischt.
Bei der abschließenden Ausführung eures Schwertstreiches ist gutes Timing gefragt, da jetzt die sogenannten Chain Abbilities ins Spiel kommen. Diese Kampffertigkeiten sorgen für zusätzliche Effekte. So wandert zum Beispiel ein bestimmter Prozentsatz des erzielten Schadens in die Auffrischung der eigenen Lebensenergie. Oder ihr klaut dem Gegner Magiepunkte, vergiftet, betäubt oder lähmt euren Kontrahenten. Drei dieser Chains legt ihr auf die drei Buttons Quadrat, Dreieck und Kreis eures Joypads. Drückt ihr einen dieser drei Knöpfe genau dann, wenn ein Ausrufezeichen über dem Kopf eures Helden erscheint, dann wird einer dieser zusätzlichen Effekte ausgelöst. Noch besser: Ashley holt so lange zu einem weiteren Schlag aus, wie ihr immer wieder einen der drei Buttons (allerdings nie zweimal denselben hintereinander) rechtzeitig beim Aufflackern eines Ausrufezeichens betätigt. Bei gutem Timing gelingen euch so ein Dutzend oder mehr Hiebe hintereinander.
Die richtige Waffe zur richtigen Zeit
Wie viel Schaden ihr anrichtet hängt darüber hinaus von der richtigen Wahl der Waffe ab. Eine Menge unterschiedlicher Hieb- und Stichwerkzeuge, Lanzen, etc. findet ihr auf euren Abenteuern. Doch selbst unter ein und derselben Waffengattung gibt es himmelweite Unterschiede. Ein Schwert zum Beispiel kann gegen Menschen oder Drachen besonders effektiv sein, bei anderen Gegnern, wie Untote oder Geister, aber so sinnvoll, wie eine Luftpistole gegen einen Panzer. Darum sollte euer erster Blick den Statistiken einer neuen Waffe gelten um gegebenenfalls schnell auf eine effektivere Klinge zu wechseln. Nebenbei dürft ihr euch in Werkstätten eigenes Mordwerkzeug zusammenbasteln und in Kämpfen abgenutzte Waffen und Ausrüstung wieder reparieren. Zerlegt sie einfach und setzt sie mit anderen Komponenten wieder neu zusammen. Vielleicht noch den ein oder anderen Edelstein zur Veredelung und Aufwertung eingebaut und schon ist eine neue mächtige Klinge geboren.
Es kann dabei nicht Schaden, wenn ihr euch auf einige wenige Waffenarten konzentriert. Sammelt ihr genügend Erfahrung zum Beispiel mit einem Florett, dann dürft ihr bald mit einer von mehreren superduper Spezialattacken, den Break Arts, den Gegnern einheizen. Ashley ist nicht umsonst Mitglied der Elite-Verbrecherjäger-Spezialeinheit "Riskbreaker". Auf Kosten von Lebensenergie holt ihr zu einer verheerenden Break Technik aus, die weitaus mehr Schaden anrichten kann, als eine normale Attacke.
Gutes Timing ist alles
Auch in der Defensive stehen euch zusätzliche Fähigkeiten offen. Hat euch ein feindliche Kreatur im Visier und holt zum Angriff aus, erscheint wieder ein "!" über eurem Helden. Drückt ihr jetzt einen der drei Buttons Quadrat, Dreieck oder Kreis, kommt eine von vielen Defence Abilities zum Tragen. Ihr verringert so den Schaden, der euch durch Zauber oder physische Angriffe entsteht, füllt euch euren Magiepunktevorrat wieder auf, oder ihr verletzt den Gegner, indem ein Teil des entstandenen Schadens auf den Angreifer zurück fällt.
Neue Chain und Defence Abilities erhaltet ihr immer, denn ihr eine bestimmte Anzahl an Gegnern ins Jenseits befördert habt. Dann müßt ihr euch aus je vier Kampf und vier Verteidigungsfertigkeiten für eine entscheiden. Kleiner Tip am Rande: Gerade zu Beginn solltet ihr euch für solche Fertigkeiten entscheiden, bei denen Zauber- oder physische Angriffe auf den Urheber zurückgeworfen werden. Diese Abilities sind besonders nützlich bei den vielen starken Zwischengegner, die euch in den Dungeons über den Weg laufen. Diese kann man mit normalen Waffen nämlich meist nur geringfügig ankratzen.
Immer das Risk-Meter im Auge behalten!
Eine wichtige Anzeige solltet ihr bei den Kämpfen nie aus dem Auge verlieren: Das Risk-Meter am oberen linken Bildschirmrand. Jeder Schwerthieb, jede Chain Ability, Defence Ability oder Break Technik läßt das Risk-Meter mal mehr mal weniger stark ansteigen. Ist der Wert hoch, dann verringert sich sowohl die Wahrscheinlichkeit, den Gegner zu treffen als auch der Schaden, der angerichtet wird. Noch Schlimmer, der Schaden, den ihr selbst einstecken müßt, wird immer größer. Allerdings erhöht sich auch die Chance einen kritischen Treffer zu landen. Wenigstens etwas positives. Um die Risk Anzeige in Kämpfen zu senken setzt ihr bestimmte Kräuter ein. Der Wert bewegt sich schnell gegen Null, wenn ihr einfach nur ein wenig ohne zu fighten herumlauft (vom Kampf Modus wieder in den sogenannten Relax Modus, in dem ihr ohne Waffe in der Hand die Gegend erkundet, zurückschalten). Geht natürlich nur, wenn kein Feind in der Nähe ist.
Kein Rollenspiel ohne Zauberei. "Vagrant Story" bildet da keine Ausnahme. Bei der Leichenplünderung der vielen Zwischenbossgegner gelangt ihr in den Besitz von Grimoires. Durch das Studium dieser Bücher lernt ihr nützliche magische Fähigkeiten. Neben offensiven oder defensiven Zaubersprüchen könnt ihr euch heilen oder zeitweise einige Eigenschaftswerte pushen. Und über allem schwebt das legendäre "Grand Grimoire", das ultimative Zauberbuch.
Eine packende Geschichte entfaltet sich
Gleich zwei mächtige und undurchsichtige Organisationen sind hinter diesem Schatz her. Der Kirchensenat hat seine Ritter des "Schwerter des Grals" unter Führung von Romeo Gildenstein in Marsch gesetzt, die mit der Mellenkamp Sekte unter dem selbsternannten Propheten Sydney Losstarot aneinander geraten. Letztere hatten das Schloss des Landesfürsten Bardoba gestürmt, der aber zu seinem Glück gerade außer Haus war. Kein Wunder also, dass auch die regulären Truppen des Landes nicht gerade gut auf die Sektierer zu sprechen sind. Und mittendrin Ashley Lionet als verdeckter Ermittler, der mit seiner Kollegin Melrose Licht in die verworrenen Ereignisse bringen soll. Alles scheint sich in der verlassenen Stadt Le Monde zuzuspitzen. Also macht sich Ashley auf, in Le Monde nach dem Rechten zu sehen.
Wie von Square gewohnt entfaltet sich eine packende im Mittelalter angesiedelte Geschichte. Mord, Intrigen und überraschende Wendungen machen den Flair der Story aus. Leider wird die Geschichte nicht mit Renderfilmchen alà "Final Fantasy 8" vorangetrieben sondern in Spielegrafik weitererzählt. Dafür glänzen die Szenen mit filmreifen Schnitten und Kameraperspektiven. Sprachausgabe gibt es leider nicht. Wenn sich die verschiedenen Leutchen zu Wort melden, dann bekommt ihr den entsprechenden Text in einer von Comics bekannten Sprechblase präsentiert.
"Vagrant Story" erfordert etwas Einarbeitung. hr müßt euch ausgiebig mit diversen Statistiken befassen um für die jeweiligen Gegnerarten passende Ausrüstung und Bewaffnung auszusuchen. Dank guter Benutzerführung habt ihr schnell die Werte gefunden, die euch gerade interessieren. Durch eine Schnellwahlfunktion wechselt ihr zudem flux zwischen verschiedenen Chain und Defence Abilities oder initiiert Break Arts und Zaubersprüche. Den Überblick in den diversen Dungeons verliert ihr dank einer ausgezeichneten 3D Karte nicht, in der ihr fleißig herumzoomen und -drehen dürft. Außerdem seht ihr hier zusätzlich noch nicht geöffnete Durchgänge, die erst bei Erlangung eines bestimmten Gegenstandes eine Passage erlauben (meist im Besitz eines der vielen Zwischengegner). Euren Spielstand verewigt ihr an vorgegebenen Speicherpunkten. Drei Blöcke sind für einen Spielstand zu veranschlagen.
"Vagrant Story" ist ein exzellentes Rollenspiel mit Action-Adventure Anleihen. Gefallen haben mir vor allem das wohl durchdachte und innovative Kampfsystem, das zwar einige Einarbeitung erfordert dann aber viel Raum für eigene Experimente läßt. Dazu kommt eine brillant erzählte Geschichte in einem düsteren mittelalterlichen Ambiente, unterstützt von der in überwiegend dunklen Farbtönen gehalteten Optik und untermalt durch eine zur düsteren Grundstimmung passende Musik. Diese Atmosphäre können selbst die nicht vorhandene PAL-Anpassung der Grafik und die uninspirierte deutsche Übersetzung nicht kaputt machen (sag).